Jetzt erst recht – Jugend(arbeit) 2022 richtig fördern

Stellungnahme zum 50. Landesjugendplan

Die Ehrenamtsstruktur in Baden-Württemberg steht unter einem doppelten Druck. Einerseits durch die demografische Entwicklung, andererseits erfordert die Pandemie zusätzliche Anstrengungen. Daraus ergeben sich aus Sicht des Landesjugendrings wichtige Aufgaben an die Landespolitik, die in dieser Stellungnahme aufgegriffen werden.


Sehr geehrte Frau Vorsitzende Häffner,

sehr geehrter Herr Vorsitzender Wahl,
sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete,
(sehr geehrter Frau Ministerin Schopper),
(sehr geehrter Herr Minister Lucha),


Seit März 2020 haben wir alle gelernt, dass Veranstaltungen, Konferenzen und Sitzungen auch im digitalen Raum funktionieren können. Zugegeben manchmal sogar besser – denn wer möchte nun noch für eine Sitzungsdauer von 60 Minuten drei Stunden Fahrtzeit auf sich nehmen. Die Kachelansicht ist plötzlich zur Normalität geworden und trotz oder gerade wegen dieser Erfahrungen nehmen wir nun reale Begegnungen wieder besonders wahr und genießen sie.

Ich freue mich deshalb, dass ich heute in Präsenz Stellung zum 50. Landesjugendplan nehmen kann und versuche mit Ihnen und den neuen digitalen Erfahrungen einen hybriden Einstieg. Ich würde mich freuen, wenn Sie sich darauf einlassen. Sie haben sicherlich alle ein Handy oder Tablet dabei. Bitte wählen Sie Ihre Antwort auf unsere Frage aus. Gemeinsam können wir dann auf das Gesamtergebnis der Umfrage schauen:

Umfrageergebnisse: 82% 15 bis 18 Jahre
Wir hatten es so oder so ähnlich erwartet. (Weit) überwiegend sind Sie als Jugendliche oder Jugendlicher ehrenamtlich aktiv geworden. Wir haben die These, dass viele von Ihnen heute hier nicht sitzen würden, wenn Sie nicht als junger Mensch zwischen 15 und 25 Jahren ehrenamtliches Engagement kennengelernt, erlebt und erlernt hätten, oder kurz: Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr. Dies gilt im Übrigen nicht nur für die Männer.

Personen, die in den nächsten neun Jahren ehrenamtlich aktiv werden, sind heute schon auf der Welt. Sie sind zwischen 1997 und 2015 geboren. Gegenüber 2012 werden es 2025 in Baden-Württemberg 135.000 junge Menschen weniger sein, die sich potentiell ehrenamtlich engagieren können. 2030 werden es sogar 157.000 weniger junge Menschen sein. Diese demografische Entwicklung bedeutet zweierlei:

  1. „The Länd“ muss in den kommenden Jahren massiv in die Gewinnung junger Ehrenamtlicher investieren, sonst bleibt Baden-Württemberg nicht das Ehrenamtsland mit allen gesellschaftlichen Konsequenzen, die sich jeder selbst ausmalen kann.
  2. Die verbandliche Kinder- und Jugendarbeit funktioniert ehrenamtlich mit genau den Altersgruppen, die massiv zurückgehen bzw. wir bereits inmitten des Wandels stehen. Damit geraten die im Landesjugendring zusammengeschlossenen Jugendverbände massiv unter Nachwuchs-Druck. Sie müssen, um ihr ehrenamtliches Niveau zu halten, unter weniger jungen Menschen erfolgreicher ihre Aktiven gewinnen.

„The Länd“ UND die Jugendverbände brauchen folglich Ihre Unterstützung als Abgeordnete, um Rahmenbedingungen in Baden-Württemberg für das Ehrenamt zu erhalten sowie auf- und auszubauen und um junges Engagement zu ermöglichen.

Wenn Sie so wollen, dann habe ich mit der gesellschaftlichen Entwicklung die Ausgangslage beschrieben. Dazu kommen nun aber noch die Pandemiejahre 2020 und 2021. In den Lockdowns war Jugendarbeit meist komplett untersagt, dazwischen nur eingeschränkt möglich und das zudem ohne Planungsperspektiven. Im Juni 2020 und 2021 wussten wir noch nicht, wie wir in den Sommerferien Zeltlager, Waldheime und Jugendfreizeiten durchführen können. Viel zu viele Lehrgänge für Jugendgruppenleiterinnen und -leiter, Seminare und praktische Bildungsmaßnahmen mussten ausfallen oder konnten nur webbasiert stattfinden.

Im vorliegenden Entwurf steht auf Seite 8, ich zitiere: „Kinder und Jugendliche waren und sind von der Pandemie und ihren Folgen in besonderer Weise betroffen. Es fehlen nicht nur die sozialen Kontakte, sondern auch die Möglichkeiten zur Entfaltung im öffentlichen Raum und die Teilhabe an Freizeitmöglichkeiten. Durch stark reduzierte Angebote der Jugendarbeit und Jugendsozialarbeit entstand ein Vakuum in allen Altersgruppen. Besonderes Augenmerk soll deshalb auf die Abmilderung von Corona-Folgen für Kinder und Jugendliche gelegt werden.“

Dieser Analyse stimmen wir grundsätzlich zu. Nur die eine Schublade für Kinder und Jugendliche wird es nicht geben. Zum allergrößten Teil sind sie weder psychisch krank noch zu Nerds oder sozial inkompetent geworden. Im Gegenteil – sie haben durch Verzicht ein hohes Maß an gesellschaftlicher Verantwortung übernommen. Sie haben schlicht einen Teil ihrer Kindheits- oder Jugendphase versäumt. Erste Schmetterlinge im Bauch mit 14 auf einer Zeltfreizeit am Lagerfeuer gab es ggf. nicht. Die Schmetterlinge fliegen hoffentlich noch lange – aber anders als mit 14 ist es halt schon irgendwie. Die Corona-Folgen abzumildern heißt für uns deshalb, dass Kinder und Jugendliche verpasste Erfahrungen so gut es geht und schnellst möglichst nachholen können müssen.

Leider finden wir hier den Berichtsteil des 50. Landesjugendplans nicht gänzlich wieder in dem Zahlenteil ab Seite 102.

Grundsätzlich stimmt die Richtung des Einzelplans 09, der im Wesentlichen die Kinder- und Jugendarbeit nach SGB VIII § 11 umfasst. So wurden die Forderungen unserer Kampagne „Jugendarbeit ist MehrWert“ aufgenommen und die noch aus D-Mark-Zeiten stammenden Tagessätze im Bereich der Jugenderholung (7,50 € bzw. 8,70 €) und Jugendbildung (9,20 €) auf schließlich 20 € im Förderjahr 2021 angehoben. Dazu kommen aus dem Aufholpaket Corona des Bundes weitere 5 € in den Jahren 2021 und 2022. Zusammen steht also unterm Strich erstmals die 25 Euro – das hatten wir gefordert. Auch der Betreuungsschlüssel wurde unter Eindruck der Pandemie 2020 und 2021 auf 1:5 abgesenkt sowie Zeltmaterial und praktische Maßnahmen mit einer Quote von 50% gefördert. Unser Zahlenmuster der Kampagne ist umgesetzt, dafür unser aufrichtiger Dank!

Jetzt könnte ich die Stellungnahme beenden – aber:

Wie eingangs erwähnt, steht die Ehrenamtsstruktur unter einem doppelten Druck. Einerseits durch die demografische Entwicklung, andererseits erfordert die Pandemie zusätzliche Anstrengungen.

Seit mindestens zehn Jahren – noch weiter zurück wollte ich nicht recherchieren – wurde der Planansatz für die institutionelle Förderung der Jugendverbände nicht erhöht. Was meinen Sie, in welcher Höhe durchschnittlich unsere Mitglieder institutionell gefördert werden? Ich gebe Ihnen kurz Bedenkzeit und nenne eine kleine Auswahl an Verbänden: Jugendrotkreuz, Naturschutzjugend, Bund der alevitischen Jugend, Ring deutscher Pfadfinderverbände oder mein Heimatverband, das Evangelische Jugendwerk in Württemberg. Gibt es Tipps? Wer möchte? … Es sind 2.851 Euro pro Monat (34.215 € im Jahr). Davon sind Porto, Internet, Telefon, Sekretariat, Publikationen, … zu bezahlen. Strukturen, die in diesem geringen Umfang gefördert werden, sind kaum in der Lage, das Ehrenamt unter dem Doppeldruck zu stabilisieren oder gar auszubauen.

Zum anderen werden noch immer nur 26 der 33 Jugendverbände, die im Landesjugendring zusammengeschossen sind, institutionell gefördert. Unsere Vollversammlung fordert deshalb für die Aufnahme von Jugendverbänden in die institutionelle Förderung des Landes transparente Kriterien und Regeln sowie einen strukturell angelegten Inflationsausgleich.
Und schließlich – als Schwabe und Mitglied eines christlichen Jugendverbandes fast peinlich – muss ich auch für den Landesjugendring Baden-Württemberg selbst eine deutliche Erhöhung der institutionellen Förderung einfordern. Auch diese ist seit vielen Jahren auf gleichem Niveau.

Gemeinsam mit der Akademie der Jugendarbeit, der Landesarbeitsgemeinschaft Offene Jugendbildung (LAGO) und der Arbeitsgemeinschaft Jugendfreizeitstätten (AGJF) sind wir das Haus der Jugendarbeit am Pragsattel. Doch es zeichnet sich die Notwendigkeit eines Umzug ab und dann werden wir in Stuttgart sicherlich mit höheren Mieten, dafür mit funktionierender Wasser- und Stromversorgung sowie zeitgemäßer Internetanbindung kalkulieren müssen.

Apropos Internetanbindung: Der Masterplan Jugend hat als einer seiner Schwerpunkte die Digitalisierung in der Kinder- und Jugendarbeit beschrieben. Zeitgleich ist der Masterplan mit 5,2 Mio. € beplant. Das sind pro Kind und Jugendlichem in Baden-Württemberg etwa zwei Euro und 60 Cent oder etwa drei Meter CAT 7- Netzwerkleitung. Doch der Masterplan hat noch weitere wichtige Themen auf der Agenda:

  1. Stärkung der Kinder- und Jugendbeteiligung sowohl in der politischen Partizipation als auch in der gesellschaftlichen Teilhabe auf Landesebene, ebenso wie in Quartieren und auf kommunaler Ebene,
  2. Umwelt- und Klimaschutz,
  3. Abmilderung der Corona-Folgen für Kinder und Jugendliche und
  4. Stärkung der außerschulischen politischen Jugendbildung, um Verschwörungsmythen, Hate Speech und anderen Formen der Verrohung des gesellschaftlichen Diskurses, bei der die Pandemie zusätzlich als Katalysator gewirkt hat, entgegen zu treten.

Angesichts dieser wichtigen Themen dürfen sie gerne und auch viel Förderung auf den Masterplan draufpacken. Sie werden sagen, dass die Kassen leer sind. Doch das sehe ich angesichts erheblich höherer Beträge in anderen Politikfeldern nicht ganz so. Es kommt auf ihre Prioritätensetzung an, denn Sie beschließen den Haushalt unseres Landes.
Doch zurück zum vorliegenden Landesjugendplan:

Wichtig ist uns der sogenannte Bündnisschutz, wie er auf Seite 8 vorgestellt wird. Wenn das Finanzministerium angesichts klammer Kassen zur Haushaltsdisziplin den Rasenmäher anwirft, dann muss ihre Priorität zum Erhalt gesellschaftlicher Nachhaltigkeit in den beiden hier anwesenden Ausschüssen sicherlich sein, dass das im Vergleich wirklich kleine Grundstück der Jugendarbeit nicht mit gestutzt wird. Das gilt übrigens nicht nur für 2022 sondern für die gesamte Legislatur bis 2026!

Wichtig ist uns zudem die Novellierung der Verwaltungsvorschrift zur Förderung der außerschulischen Jugendbildung. Die derzeit geltende Vorschrift ist dem Jugendalter deutlich entwachsen und in vielen Aspekten nicht mehr zeitgemäß. Ihre grundlegende Überarbeitung erfolgte in einem vorbildlichen Beteiligungsprozess durch das Referat 23 des Sozialministeriums bis Frühjahr 2020, wofür wir namentlich dessen Leiterin Frau Deiss und ihrem Team danken. Nicht zu verantworten hat das Referat, dass sie nicht nach Plan zum Förderjahr 2021 in Kraft treten konnte. Wenn sie nun endlich für 2022 wirksam werden soll, dann braucht es morgen und nicht erst übermorgen deren Beschluss.

Alle Planungen in Jugendbildung und -erholung der Jugendverbände für 2022 erfolgen derzeit ohne das Wissen, auf welcher Rechtsgrundlage die Durchführung stattfinden wird. Bitte sorgen sie dafür, dass wir Ende November endlich wissen, woran wir 2022 sind. Und auch dann wird es in der Praxis noch holprig werden, da die Verwaltungsabläufe nicht vorbereitet und abgestimmt sind und natürlich bis dato auch keine Informationen dafür weitergegeben werden können.

Zum Einzelplan 04 haben wir bislang wenig gesagt. Das liegt daran, dass wir leider kaum im Austausch mit dem Ministerium für Kultus, Jugend und Sport stehen. Den Bericht ab Seite 61 können wir weitgehend nur zur Kenntnis nehmen, sind wir doch in die dort beschriebenen Prozesse nicht eingebunden.

Headliner in der Ausgabe der Stuttgarter Zeitung vom vergangenen Samstag war der Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung. „Alle gegenwärtigen Modelle der Ganztagsgrundschule bleiben weit hinter dem zurück, was der Rechtsanspruch umfassen wird“, stellt der Bildungsdezernent des baden-württembergischen Städtetags Norbert Brugger fest. Im Bericht zum Landesjugendplan wird das Jugendbegleiterprogramm als zentrales Betreuungsangebot an Schulen mit beeindruckenden Zahlen hervorgehoben. Das Jugendbegleiterprogramm wird vor allem in der Lage sein, ab 2026 die Ganztagsschule mit Rechtsanspruch umzusetzen. Zudem sieht der Rechtsanspruch auch eine achtstündige Betreuung in zehn von 14 unterrichtsfreien Ferienwochen vor.

Aus pädagogischer Sicht sind wir der Meinung, dass Schulferien auch Ferien von der Schule sein müssen und Ferienbetreuung nicht im Schulkontext stattfinden kann, darf und sollte. Oder wollen sie Ihre kargen Ferien im Landtag verbringen? Da die Kinder- und Jugendarbeit bislang einen großen Anteil an Jugendfreizeitangeboten unter der Woche und in den Ferien übernimmt, muss zur Umsetzung der Ganztagsbetreuung bis 2026 rechtzeitig mit Planungen begonnen werden. Hier sehen wir eine große Aufgabe auf Politik und Gesellschaft zukommen, die nur im Dialog mit uns erarbeitet werden kann.

Wenn ich also abschließend meinen zehnminütigen Galopp durch die 149 Seiten des 50. Landesjugendplans zusammenfassen darf:

  1. Fördern Sie 2022 und folgend das Ehrenamt in der Kinder- und Jugendarbeit deutlich mehr, wie der vorliegende Plan derzeit vorsieht.
  2. Berücksichtigen Sie dabei, dass sich Ehrenamt auf starke Strukturen, die institutionell von Ihnen gefördert werden, verlassen können muss.
  3. Statten Sie den Masterplan finanziell aufgabengerecht aus.
  4. Tragen Sie Ihren Teil zur sofortigen Inkraftsetzung der Verwaltungsvorschrift bei.
  5. Vertagen Sie die Vorbereitung der Umsetzung des Rechtsanspruchs auf Ganztagsbetreuung nicht und gehen Sie dazu mit uns ins Gespräch. 2026 kommt vermutlich wieder überraschend schnell auf uns zu.

Sie alle werden über den Landeshaushalt 2022 im Parlament beschließen. Ich hoffe, dass ich mit meiner Stellungnahme ihre Entscheidung als Fachpolitikerinnen und Fachpolitiker festigen konnte.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!

Diese Stellungnahme als Download (PDF).

Pressemitteilung des Landtags zur Stellungnahme des LJR

Öffentliche Anhörung des Landesjugendrings zum 50. Landesjugendplan

Die Ausschüsse für Kultus, Jugend und Sport sowie Soziales, Gesundheit und Integration haben in gemeinsamer öffentlicher Sitzung den Landesjugendring Baden-Württemberg zum Entwurf des 50. Landesjugendplans für das Haushaltsjahr 2022 angehört. Der Landesjugendring zeigte sich in der per Livestream übertragenen Sitzung am Mittwoch, 10. November 2021, mit den Ansätzen des Landesjugendplans zufrieden. Wichtige Forderungen aus der Kinder- und Jugendarbeit seien aufgegriffen worden. Mit Blick insbesondere auch auf die Corona-Pandemie müsse das Land aber mehr tun, um den Folgewirkungen für Kinder und Jugendliche wirksam zu begegnen.
Weiterlesen auf der Website des Landtags von Baden-Württemberg…